Talkshow - Biopolitik in der Globalisierung

Dies ist das Skript einer Talkshow, die wir für den BUKO 2007 konzipiert haben. Der Zweck der Talkshow war es an Hand des Themas Biopolitik in der Globalisierung, diskutiert an zwei sehr verschiedenen Beispielen - Schönheit und Bevölkerungspolitik -, unseren Ansatz einer biopolitischen Analyse herauszuarbeiten und zur Diskussion zu stellen.
Die biopolitische Analyse von Macht und Herrschaft ist dabei für uns eine Analyse, die zusätzlich und in Wechselwirkung mit anderen Ansätzen zur Analyse von Macht und Herrschaft Sinn macht, und diese nicht ersetzt.
Die beiden Bereiche wurden durch zwei von uns dargestellte Talkshowteilnehmer SCHÖ und BEV vetreten. Die Fragen wurden von einem Moderator, auch einem Mitglied unserer Gruppe, gestellt.

Die Talkshow wurde vor der ersten Frage eingeleitet durch eine kurze Gruppenvorstellung, die Vorstellung der Diskutierenden und die Vorstellung des Themas.

Dieses Script ist die Dokumentation unserer im Prozeß befindlichen Diskussion zur Zeit der Talkshow (Februar 2007), manches haben wir weiter diskutiert, manches fallengelassen, anderes brennt uns unter den Sohlen, diese Dokumentation soll dazu dienen auch anderen eine Weiterführung von Diskussionen, ausgehend von diesem hier dokumentierten Stand, zu ermöglichen.
Anregungen zur Diskussion findet Ihr hier viele, fertige Wahrheiten keine.


Ergänzt wurde die Talkshow von uns durch selbst hergestellte satirische Videokurzfilme.

Direkt nach der Einleitung der Talkshow haben wir eine von uns erstellte Tagesschauversion gezeigt. Die Nachrichten sind alle reale wahre Nachrichten, kein Fake, aber wir haben hier Nachrichten aus einem Zeitraum von mehreren Jahren in einer Tagesschau in Zusammenhang gestellt, so daß die biopolitische Stoßrichtung durch die wechselseitigen Bezüge deutlich zu Tage tritt.



Tagesschau
http://www.youtube.com/watch?v=d6VMpL5XTW0&feature=player_embedded



Im Anschluß daran stellte der Moderator die erste Frage.


1. Moderator - Frage: Was hat denn nun Schönheit und Bevölkerungspolitik mit Biopolitik zu tun? Zunächst denke ich, wenn derzeit von Biopolitik gesprochen wird, an Gentechnologie und Rasterelektronenmikroskope und nicht an ein Skalpell oder die Pille.


BEV: Dazu sollten wir erst mal klären, was wir unter Biopolitik verstehen: Die „Optimierung“ der Körper der Einzelnen und die Optimierung des „Bevölkerungskörpers“ im Interesse besserer Verwertbarkeit und Beherrschbarkeit mittels Disziplinartechniken (die auf den Einzelnen wirken) und Regulationstechniken (die der Steuerung des Bevölkerungskörpers dienen). Etwas biopolitisch zu betrachten heißt, die gesellschaftlichen Verhältnisse unter einem bestimmten Blickwinkel zu analysieren, heißt zu betrachten, wie die kapitalistische Gesellschaft die einzelnen Körper und den Bevölkerungskörper formiert. Von diesem Blickwinkel erhoffen wir uns ein komplexeres Verständnis davon, wie Herrschaft funktioniert.
Damit ist klar, dass Bevölkerungspolitik natürlich Biopolitik ist. Bevölkerungspolitik umfasst alle, vor allem staatlichen, Versuche, sowohl quantitativ als auch qualitativ auf der Entwicklung der Bevölkerung einzuwirken.

Zum einen geht’s um die reine Bevölkerungszahl. Ganz oben steht da traditionell die Geburtenkontrollpolitik in den armen Ländern des Südens, um der dort angeblich vorhandenen sog. „Überbevölkerung“ zu begegnen, wobei das heute eher über „Empowerment“ von Frauen als über medizinische Zwangsmaßnahmen versucht wird.
Quantitative Bevölkerungspolitik gibt’s aber auch hier, nur genau anders herum, Stichwort: „Die Deutschen sterben aus“. Schon daran wird deutlich, dass Bevölkerungspolitik, sowohl im globalen Maßstab, aber auch bezogen auf einzelne Staaten, immer auch „qualitative“ Aspekte hat: Vermehren sollen sich nur „die Richtigen“: Also nicht die Armen in den Ländern des Südens, sondern die Reichen in den Ländern des Nordens – aber, im Zuge der Globalisierung, auch zunehmend in bestimmten Ländern des Süden –, und hier selbstverständlich nicht die MigrantInnen oder Hartz IV-EmpfängerInnen, sondern z. B. Akademikerinnen – aktuelles Beispiel: das neue Elterngeld, das nur für Besserverdienende eine Verbesserung darstellt, während es Arme schlechter stellt.

Als Bevölkerungspolitik lassen sich auch alle Anstrengungen zur Seuchenbekämpfung, Stichwort Afrika und Aids (ein wichtiges Thema auch des G8-Gipfels), begreifen. Und natürlich ist auch Migrationskontrolle Bevölkerungspolitik, sowohl quantitative als auch qualitative. Aktuelle Beispiele wären etwa die Debatten um die Bleiberechtsregelung oder um „zirkuläre Migration“.
Aber die Frage war ja, was das mit Biopolitik zu tun hat: Bevölkerungskontrolle ist ein ganz früher und bedeutender Teil von Biopolitik. Foucault (an den wir uns, obwohl wir bestimmt keine Foucault-Jünger sind, hier anlehnen) erläutert sein Konzept der Biopolitik u.a. anhand eben der Entstehung dieser Bevölkerungspolitik. Diese „Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usf.“, sagt er, gaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „die ersten Wissensobjekte und die ersten Zielscheiben biopolitischer Kontrolle“ ab. Bis heute ist Bevölkerungskontrollpolitik im engeren Sinne also ein sehr bedeutender Teil von Biopolitik, wobei die Biopolitik aber noch mehr umfasst.


SCHÖ: Wie BEV eben schon ausgeführt hat geht es bei Biopolitik nicht nur um die Optimierung der Menschen für die Verwertbarkeit sondern auch um die Sicherung von Herrschaft. Biopolitik ist wesentlich daran beteiligt Kategorien wie Geschlecht oder Rasse zu schaffen. Damit werden Spaltungen in der Bevölkerung eingeführt, die Herrschaft überhaupt erst ermöglichen.
Der Schönheitsdiskurs ist hier ein gutes Beispiel. Durch Schönheitsdiskurse werden über die Einschrift in die Körper Gruppenidentitäten geschaffen und reproduziert. Dies gilt insbesondere für die sexistische Spaltung der Gesellschaft in Männer und Frauen. Und durch Schönheitsdiskurse wird gleichzeitig ein individueller Wettkampf im Sinne der sozialdarwinistischen Ideologie eines ‚Survival of the fittest’ in Gang gesetzt. Also ein klassisches jeder gegen jede.
Die Schönheitswerbung bietet vergleichbar dem Sexismus und Rassismus und zum Teil auf diesen Herrschaftsverhältnissen aufbauend Identitäten an, die sich primär über Spaltungen und den Ausschluß der Anderen definieren. Die Individualität aber auch die soziale Gruppenzugehörigkeit und der Status werden primär über die Konstruktion der Anderen, der Unwerten, der Häßlichen, der Unmodischen, usw. betrieben. Ganz klassisch ist das in der West-Werbung zu sehen. Und das in einer Situation in der Menschen zunehmend durch den Kapitalismus auf ein austauschbares Funktionieren reduziert werden, und sie sich als unfähig erleben real ihr Leben zu gestalten. Und so eine Selbstdefinition über die eigene Handlungspraxis immer schwieriger wird.
Schönheit als ein scheinbar besonders individuelles Konsumgut ist dabei aber eindeutig moderner als rassistische oder nationalistische Ideologien. Einmal erscheint Schönheit für jede bzw. jeden käuflich, die bzw. der bereit ist genug Geld auszugeben. Und zweitens wird der Niketurnschuh, den alle tragen, eben als besonders individuell einmalig verkauft. Die Schönheitsideologie paßt damit viel besser in den modernen neoliberalen Kapitalismus als die alten Gruppenideologien.


2. Moderator-Frage: Aber wie lassen sich ihre Ausführungen im Kontext der Globalisierung einordnen? Schönheit scheint mir doch etwas kulturell und individuell sehr unterschiedlich Definiertes zu sein und beruht Bevölkerungspolitik nicht in erster Linie auf inner-staatlichen Interventionen wie Familien- und Sozialpolitik?


SCHÖ: Es findet beides parallel statt. Die auf die Formierung von KonsumentInnengruppen gerichtete Schönheitsdiskurse bedienen sowohl nationale wie globalisierte Bildwelten und Gruppen.
Dies entspricht einer Entwicklung auch auf anderen Ebenen, das sich quer zu nationalen Identitäten neue herausbilden. Und innerhalb eines Landes findest Du sowohl national oder regional orientierte als auch international orientierte Gruppen. Zum Teil ist dies dann wieder noch mit dem Status oder der Beschäftigung verknüpft.
Du findest weltweit Zentren für Haarentfernung mit Lasern, von New York über Dubai bis Singapur. Das heißt aber nicht das alle Bevölkerungsteile dies gleich praktizieren. Selbst in den USA gibt es hier Differenzen zwischen der schwarzen und weißen Bevölkerung und zwischen Männern und Frauen.
Diese Ersatzindividualität, die Dir an Stelle von Handlungsfreiheit verkauft wird, die an die Stelle eines selbstbestimmten Lebens tritt, kannst Du dir halt sowohl über nationalistische Diskurse als auch über die Identifizierung mit internationalen Eliten beschaffen, aber auch über rassistische oder sexistische Identitäten.
Schönheitsdiskurse tragen dazu bei diese Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren und zu modernisieren.


BEV: Globalisierung bedeutet ja nicht, dass inner-staatliche Interventionen wie Familien- oder Sozialpolitik nicht mehr stattfänden! Jeder Staat wird versuchen, „seine“ Bevölkerung im internationalen Konkurrenzkampf entsprechend zu optimieren. Und: Bevölkerungskontrollpolitik war schon zu einem Zeitpunkt „global“, als das Wort Globalisierung noch gar nicht erfunden war. Der Norden fing schon sehr früh damit an, globale Bevölkerungspolitik zu betreiben, weil er sich durch die angebliche „Überbevölkerung“ in den Ländern des Südens bedroht fühlte. Die erste Weltbevölkerungskonferenz fand bereits 1927 in Genf statt. Schon damals hieß es, dass das weltweite Bevölkerungswachstum die „Zukunft der Zivilisation“ bedrohe und es nötig sei, dieses in einer „konzertierten internationalen Aktion“ zu stoppen. 1974 fand die erste UN-Weltbevölkerungskonferenz statt. Da spielten auch die seit Anfang der 1970er-Jahre populären Ökoszenarien von den „Grenzen des Wachstums“ und des nur begrenzt belastbaren „Raumschiffs Erde“ etc. eine gewichtige Rolle. Spätestens seit damals ist die Bevölkerungspolitik stabil verankert in unzähligen überstaatlichen UN- und anderen Organisationen, wurde und wird also im globalen Maßstab betrieben.
Hauptadressat bevölkerungspolitischer Konzepte sind dabei immer noch die armen Länder des Südens, denen Bevölkerungskontrolle als Weg aus der Armut verkauft wird.
Stichwort: „Empowerment“. Früher bestand Bevölkerungskontrolle im Süden fast ausschließlich aus Zwangsmaßnahmen, oft sogar ohne die Einwilligung der betroffenen Frauen, die zwangsweise sterilisiert wurden und an denen riskante, z.T. lebensgefährliche Langzeitverhütungsmittel getestet wurden. Oder Hilfslieferungen aus dem Norden oder dem Trinkwasser wurden sterilisierende Mittel beigemischt usw. Das hat sich, spätestens mit der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo, gewandelt: Statt durch Zwang – den es allerdings nach wie vor gibt – soll die Senkung der Geburtenraten nun durch Empowerment erreicht werden.

Bildung, die Förderung der Frauengesundheit und ökonomische Mittel wie Mikrokredite sollen die Frauen in die Lage versetzen, ganz „frei“ und „eigenverantwortlich“ darüber zu entscheiden, ob und wie viele Kinder sie haben wollen. Seitdem ist die Rede von „reproduktiven Rechten“, „freier Wahl“ und „Selbstbestimmung“.

Anknüpfungspunkt für neoliberale Strategien: Im Vordergrund steht heute selbstverantwortliches Handeln der Frauen, Risikomanagement im vorgeblich eigenen Interesse. Programme richten sich heute v.a. gegen Müttersterblichkeit (und sind natürlich häufig verknüpft mit Schutz gegen Infektionskrankheiten, v.a. AIDS). Zu beobachten ist Ausdifferenzierung in verschiedene Risikogruppen: Es geht v.a. um die Verhinderung zu früher, zu später, zu häufiger, und von ungeplanter oder ungewollter Schwangerschaft. Ausdifferenzierung auch nach Ländern: Bspw. in zahlreichen afrikanischen Ländern Programme dagegen, dass sich Frauen zu viele Kinder wünschen; in lateinamerikanischen dagegen bessere Versorgung mit Verhütungsmitteln, da Frauen eigentlich weniger Kinder wollten. Andere Länder eher ökonomische Anreize wie Mikrokredite, Bsp.: Thailand: „Überlassen Sie die nächste Schwangerschaft dem Schwein“ (Frauen erhalten Schwein und Futter zu günstigen Konditionen von Familienplanungsorg.; Schwein wird dann von Org. vermarktet. Falls Frau doch schwanger wird, fordert Org. Geld zurück).
Fazit: Ausdifferenzierung der Mittel der BevPol im Zuge der neoliberalen Globalisierung, wobei diese z.T. auch Ergebnis verschiedener Widerstände durch (fem.) Bewegung etc. sein dürfte, nicht komplett geplante hegemoniale Strategie. Ergebnis sind Zonen unterschiedlich er Entwicklungsmöglichkeiten, globale Separation.


An dieser Stelle kam der zweite kurze Video-Block, ein Kurzfilm zur Körperhaarrasur und ein Beitrag der Tierfilmserie Grzimek - Ein Platz für Tiere -.


Reklamefilm Körperhaarrasur
http://www.youtube.com/watch?v=M2MofgM5F6M&feature=player_embedded




Grzimek - Ein Platz für Tiere -
http://www.youtube.com/watch?v=EgBSW-lqPKc&feature=player_embedded



3. M-Frage: Gut, angenommen wir haben es hier mit biopolitischen Phänomenen auf globaler Ebene zu tun, so gilt es aber zu klären welche Dynamiken diese sozialen Transformationen vorantreiben. Welche Interessen treffen hier aufeinander und wer treibt diese Entwicklungen voran? Es scheint sich zunächst weniger um neue Produktionsverhältnisse mit entsprechend steigenden Profitraten zu drehen, oder? Wer hat schon etwas davon, wenn wir weltweit alle gleich aussehen? Und, eine globale Bevölkerungspolitik, hört sich das nicht an wie eine Verschwörungstheorie aus den 80er Jahren?


BEV: Ich denke, dass es eine globale Bevölkerungspolitik, eine Weltbevölkerungspolitik gibt, ist nicht von der Hand zu weisen, da brauche ich gar keine Verschwörungstheorie für. Verschwörungstheoretisch würde es allerdings dann, wenn ich sie als widerspruchsfreien Masterplan verstünde. Und natürlich gibt es da Widersprüche: Der Vatikan und in letzter Zeit verstärkt auch die USA sind bspw. gar nicht mit der Verbreitung von Verhütungsmitteln oder gar der Förderung von Schwangerschaftsabbrüchen einverstanden. Verschiedene Staaten haben unterschiedliche Interessen; Zustimmung zu bev.pol. Programmen muss oft erkauft werden, wo sie nicht erpresst werden kann. Und auch die Interessen von Regierungen, NGOs und bevölkerungspolitischen Lobbyorganisationen oder der Frauengesundheitsbewegung sind nicht identisch.

Trotzdem ist es nicht falsch zu sagen, dass hinter Bev.Pol prinzipiell ganz handfeste Interessen auch ökonomischer Natur stehen:
Bevölkerungspolitik (sowohl im globalen auch nationalen Maßstab) geht es immer darum, „die Bevölkerung“ in eine aus, v.a. aus, volkswirtschaftlicher Sicht optimale Balance zu bringen. Nicht zu viele Arme, die den sozialen Sicherungssystemen auf der Tasche liegen, aber natürlich immer noch genug für eine nützliche Reservearmee. Besonders deutlich werden solche Kalküle immer dann, wenn es um die Gestaltung der Arbeitsmigration geht.
Und grundsätzlich lässt sich sicher auch festhalten, dass es einer Weltbevölkerungspolitik um die Rettung des westlichen Lebensstils geht, der ja global nicht verallgemeinerbar ist, da er nur durch die Ausbeutung des Südens überhaupt möglich ist und auch aus ökologischen Gründen nicht verallgemeinerbar ist (Stichwort: „Wenn alle Chinesen Auto führen ...“). Wenn also die „zu vielen“ Menschen in den armen Ländern als Ursache für Armut, Hunger und Umweltzerstörung definiert werden und nicht die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der damit verbundene Lebensstil der reichen Länder, wurde die Notwendigkeit, diese Verhältnisse zu überwinden, einfach wegdefiniert. Den Ländern des Nordens geht es also um Stabilität, die Aufrechterhaltung der weltweiten Ausbeutungsverhältnisse, den Fortbestand ihrer Hegemonie, die Formung der verwertbaren Länder des Trikonts nach ihrem Vorbild, was das politische und ökonomische System betrifft, deren Integration in die Weltmarktstrukturen, die Schaffung stabiler und optimaler Verwertungsverhältnisse bis hin zum „Nation building“. Wobei ich glaube, dass da auch eher irrationale Ängste vor Unkontrollierbarkeit usw. eine Rolle spielen, was sich in „Unwörtern“ wie „Bevölkerungsexplosion“ oder „Bevölkerungsbombe“ oder im Sprechen von „Flüchtlingsströmen“ oder -„fluten“ ausdrückt, deren „Eindämmung“ ja nicht zuletzt durch Bevölkerungspolitik erreicht werden soll.

Allerdings sollte man nicht den Fehler machen und sich das Ganze vorstellen als ein Konzept weniger böser Bevölkerungsstrategen, die ihre Politik „den Bevölkerungen“ gegen deren Widerstand aufoktroyieren müssten. Gerade die neuen Mittel der Bevölkerungspolitik im Süden wie „Empowerment“, Ausbau der Gesundheitsversorgung, Schaffung von Bildungseinrichtungen etc. haben für einzelne Menschen ja durchaus ganz konkrete Vorteile bis hin zur Überwindung patriarchaler Abhängigkeitsverhältnisse. Und innerhalb von Lobbyorganisationen wie der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung spielt bei Einzelnen vielleicht wirklich der Wille eine Rolle, „den Armen“ helfen zu wollen – auch wenn das dann darin mündet, die Armen abzuschaffen statt die Armut.
Und auch hier im Norden herrscht eine weitgehende Zustimmung zu bevölkerungspolitischen Maßnahmen: Bspw. die „Qualitätskontrolle“ des Nachwuchses durch Pränataldiagnostik usw. geschieht weitgehend freiwillig und reibungslos – wer will in dieser auf Verwertbarkeit ausgerichteten Gesellschaft schon ein Kind mit Behinderung? Und auch in vielen anderen Fällen kommt es zu einer brisanten Überlagerung des individuellen Interesses nach Selbstbestimmung mit dem volkswirtschaftlichen Interesse an größtmöglicher gesundheitsökonomischer Effizienz.


SCHÖ: Im Gegensatz zur Bevölkerungspolitik, wo klassische Agenturen biopolitischer Macht, Staaten und Großorganisationen, die Politik bestimmen, zeigt der Schönheitsdiskurs für mich, wie die Modernisierung der Biopolitik aussehen könnte. Der Schönheitsdiskurs ist selbst Teil kapitalistischer Verwertung, er scheint vollständig vom Markt bestimmt, zumindest bzgl. der öffentlichen Bildproduktion, also Film, TV, Musikvideos, Werbung. Und doch funktioniert die Schönheitswerbung als Sicherung einer reaktionären kulturellen Hegemonie. Z.B. werden sexistische Stereotype immer weiter verstärkt.

Moderator-Zwischenfrage: Wieso?

SCHÖ: Wir haben zunehmend Produkte, die sich funktional kaum noch unterscheiden. Um ein solches Produkt gegen andere gleichwertige zu vermarkten müssen Kapitalisten und Kapitalistinnen es symbolisch aufwerten. Dazu wird in vielen Fällen auf Körper von Frauen zurückgegriffen, die als sexuell verfügbares Objekt zur Aufwertung von Produkten benutzt werden.
Die funktionale Angleichung der Produkte führt zumindest teilweise zu einer immer aggressiveren sexistischen pornographischen Werbung. Die Konstruktion von Frauen als Sexualobjekt für Männer ist eine der Grundlagen der Mehrwertabschöpfung im neoliberalen Kapitalismus. Der Körper von Frauen ist einer der Kriegsschauplätze des modernen Neoliberalismus.
Aber auch andere Herrschaftsverhältnisse werden im gleichen Sinn instrumentalisiert und reproduziert, z.B. Exotismus.
In den Schönheitsdiskursen setzt sich dies dann fort.
Die kapitalistische Verwertungslogik ist nicht neutral, sie hat die Tendenz Sexismus, Rassismus und andere Herrschaftsverhältnisse zu verstärken, da diese die Abschöpfung eines zusätzlichen Mehrwerts ermöglichen. Zur Durchsetzung sexistischer und rassistischer Stereotype in den Schönheitsdiskursen reicht, daß sie von dieser Verwertungslogik bestimmt werden, es bedarf keiner externen Agenturen. Die Biopolitik wird hier direkt durch die Verwertungslogik gemacht.


4. M-Frage: Lässt sich daraus etwa schließen, dass Ihr die These vom Machtverlust des Staates in der Globalisierung teilt? Verliert der Staat hinsichtlich der Biopolitik seine Regulationsfunktion und wird nur noch zu einer Art Ausführungsorgan transnationaler Interessensverbände? Oder aus einer anderen Perspektive gesprochen: ist der Volkskörper nicht mehr von Belang? quasi out of discussion.


SCHÖ: Nein und ja.
Ja, bzgl. der Schönheitsdiskurse gilt der Staat verliert Teile seiner Regulationsfunktion aber nicht an Konzerne oder transnationale Interessenverbände sondern direkt an den Markt.
Die Regulation des sozialstaatlichen Kapitalismus bestand auch eher in der Abfederung der schlimmsten Folgen der Verwertungslogik. Dies wird heute nicht mehr als notwendig angesehen bzw. findet nur noch in sehr reduzierter Form statt.
Ein solches Beispiel für Regulation gab es ja gerade im Schönheitsdiskurs die Forderung nach Gesetzen über ein Mindestkörpergewicht für Modells.
Aber der Staat hat weiter die wesentliche und wichtiger gewordene Funktion Sicherzustellen das keine bzw. keiner und nichts sich dieser Verwertungslogik entzieht. Z.B durch die Enteignung, Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, z.B. durch die Kriminalisierung ‚wilden’ Plakatierens.
Bezüglich des Schönheitsdiskurses sorgt der Staat dafür, daß alle Bilder im öffentlichen Raum der Verwertungslogik unterworfen werden. Es gibt heute kaum noch Möglichkeiten alternativer nichtkommerzialisierter Schönheitsdiskurse.
Und Menschen, die sich der Selbstvermarktung zu entziehen versuchen, die sich Normen des schönen Aussehens verweigern, werden mit Hartz IV auch zur Haarpflege geprügelt.


BEV: Darin, dass Staaten zunehmend in supranationalen Institutionen und Organisationen zusammenarbeiten oder bestimmte Dinge Aushandeln, kann ich keinen Bedeutungsverlust „des Staates“ erkennen. Allerdings kann dies natürlich zu einem Bedeutungsverlust einzelner, mit wenig Machtmitteln ausgestatteter Staaten kommen, denen die mächtigen Staaten via supranationaler Institutionen die Politik vorgeschrieben wird.

Der Staat verliert nicht an Bedeutung, es hat nur eine Veränderung hinsichtlich dessen stattgefunden, was er tut. Das ist immer ein Ausdruck, ein Ergebnis von Kräfteverhältnissen. Momentan sind diese so, dass eine Umverteilung von unten nach oben forciert wird, um auf dem Weltmarkt möglichst konkurrenzfähig zu sein. Dabei nimmt der Staat immer noch Einfluss auf „seinen Bevölkerungskörper“, wobei das aber nicht mehr in erster Linie wohlfahrtsstaatlich geschieht, sondern repressiv (Beispiel Migration). Dass der Staat den Druck erhöht, individuell vorzusorgen, sei es im Gesundheitswesen oder in der Altersversorgung, ist kein Rückzug des Staates, er ist es ja, der diese Politik vorantreibt. Und wer da rausfällt, wird zwar nur noch notdürftig versorgt, dafür aber um so stärker kontrolliert, drangsaliert oder gleich komplett weggesperrt. Die Folge ist eine zunehmende Separation zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen.

Und es gibt weiterhin nationalstaatlichen Bevölkerungskörper, bei bestimmten Fragen (Seuchen z.B.) aber auch zunehmend einen globalen Bevölkerungskörper. Die neue zusätzliche globale Ebene schafft auch neue überstaatliche Institutionen (siehe z.B. auf EU-Ebene zu Seuchen, da sind erst in den letzten Jahren zahlreiche Institutionen entstanden).
Berücksichtigt werden muß die Macht von Konzernen (Bsp. in den durch das Ausland verwalteten Teilen Ex-Jugoslawiens (Bosnien) wo staatliche Aufgaben (Polizei) privaten Unternehmen übertragen wurden). Und berücksichtigt werden muß auch immer mehr die Rolle von NGOs, eine Frage wäre hier z.B., ist das staatliches Outsourcing, weil NGOs gesellschaftliche Widersprüche viel effektiver glätten, als staatliche Institutionen das jemals könnten?
Sicher gab es 'Outsorcing' im gewissen Sinn auch früher, z.B. in Form der Kolonialgesellschaften, oder der Kanalbaugesellschaften und ihrer Kontrolle der Arbeitskräfte bis hin zur Seuchenbekämpfung, hier ist die Frage, was ist neu und was alt.


5. M-Frage: Also doch alles beim Alten und es gibt nur eine weitere, eine globale Ebene, die bei der Betrachtung der politischen Verhältnisse zu berücksichtigen ist. Gibt es nichts qualitativ Neues in der Biopolitik des 21. Jahrhunderts? Was wird gewonnen mit all dem Aufwand und den Kontrollinstanzen?


BEV: Alles beim alten würde ich nicht sagen. Für die Frage nach dem qualitativ Neuen will ich mich mal kurz von der Bevölkerungspolitik lösen und die eher abstrakt beantworten. Ich finde, die Biopolitik oder besser: die gesamte Politik war schon lange nicht mehr so „bio“ wie heute. Wir können in den letzten Jahren doch eine regelrechte Renaissance biologistischer Erklärungsmuster für gesellschaftliche Zustände feststellen. Das fängt mit Büchern an, warum Frauen nicht einparken und Männer die Butter im Kühlschrank nicht finden können, bis hin zum Selbstbild der Menschen, die sich zunehmend nur noch als mangelhafte Verkörperung ihres Genmaterials verstehen. Sprich, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden wieder zunehmend biologistisch „erklärt“ und damit letztlich als naturgegeben und damit auch nicht als veränderbar verstanden. Gewonnen wird damit also, abstrakt gesprochen, eine massive Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse, der es selbstverständlich entgegenzuwirken gilt.

Einschränkend ist hier natürlich zu sagen, daß auch von den normativen psychoanalytischen Erklärungsmustern der 70er Jahre, und z.B. ihrer Abwertung von Homosexualität als Ergebnis einer Störung in der Sexualentwicklung, ein hohes Repressionspotential ausging. Trotzdem konnten diese Diskurse in den 70er und 80er Jahren aber so verändert werden, daß sie Befreiungen ermöglichten. Bei den biologistischen Diskursen dürfte dies nur schwer möglich sein.


SCHÖ: Für die Schönheitsdiskurse gilt dieses biologistische Modell auch nicht. Schönheit ist etwas was Frau (teilweise auch Mann) erwerben/kaufen kann/muß. Schönheit wird produziert durch Kosmetik, Diäten, Kleidung, Fitnesstudios, Kliniken, usw.. Es gibt aber eine Übereinstimmung zwischen dem Schönheitsdiskurs und dem modernen Biologismus. Ein Kern des modernen Biologismus ist heute die Individualisierung. Du bist Dein individueller Genpool in dieser Ideologie. Du mußt Deinen Genpool nur optimal managen, dann wird alles gut. Das trifft sich mit der Individualisierung im Schönheitsdiskurs.
Auch dort wird diese neue individuelle Zuweisung vertreten. Danach bist immer nur Du schuld an Deiner Häßlichkeit und Deinem Mißerfolg. Weil Du das Falsche ißt, rauchst, zuwenig Sport treibst, usw.. Herrschaftsverhältnisse werden in diesen Individualisierungen vollständig ausgeblendet. Solidarischer Widerstand ist in diesen Diskursen gar nicht mehr denkbar.
Wir müssen unbedingt Mittel finden diese Individualisierungen und die Hegemonie der Verwertungslogik zu durchbrechen.
Deshalb haben Aktionen, die den öffentliche Raum öffentlich in Anspruch nehmen, z.B. die Veränderung von Plakaten mit sexistischen Darstellungen ‚schöner’ Frauen eine biopolitische Dimension.
Und auch Gruppen, die sich mit dem eigenen Körperlichkeit, Geschlecht, Eßverhalten oder Sexualität befassen, um zu begreifen wie dies politisch durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt und produziert wird, können, falls sie widerständige solidarische Praxen entwickeln und die Selbstverwertung und Selbstdisziplinierung unterminieren, politisch radikale Biopolitik von Unten sein. Z.B. die Methode der Kollektiven Erinnerungsarbeit von Frigga Haug.


An dieser Stelle kam der dritte kurze Video-Block, ein Kurzfilm der sich an den 'beliebten' TV-Verkaufsshows orientiert. Wir weisen darauf hin, das die Teile, dieser Satire, die hier dargestellt sind und inzwischen Realität sind (- http://scientificmatch.com/chemistry.htm -) zum Zeitpunkt der Erstellung des Films nicht existierten.


TV-Verkaufsshow
http://www.youtube.com/watch?v=KfRjkJNDg0A&feature=player_embedded



6. M-Frage: Bei dem Stichworten „Selbstdisziplinierung” und „Selbstverwertung” muss ich nachhaken? Selbstdisziplinierung, ist das etwas Unbewusstes, eine Reaktion auf Werbung und Indoktrination oder eine Form von Lebensstil, der auf Freiwilligkeit beruht? Die Selbstverwertung des Körpers hört sich hingegen eher nach einem postindustriellen Jobprofil in der new economy an?


SCHÖ: Das selbst-.. im Zusammenhang mit Disziplinierung und Verwertung weist auf ein Arrangement mit den Machtverhältnissen hin. Die Menschen erhalten etwas für ihr Funktionieren.
Eine der Grundstrukturen biopolitischer Macht in der Moderne besteht darin, einem Teil der Menschen bei Übernahme einer bestimmten biopolitischen Ideologie, z.B. eines Schönheitsideals, Angebote zur Partizipation an der Machtausübung zu machen.
Über die Schönheitsdiskurse wird Männern z.B. ein spezifische Zugriffsmacht auf den Körper von Frauen eingeräumt. Der Frauenkörper wird zum öffentlichen Ort, einer primär von Männern bestimmten Öffentlichkeit.
Frauen wiederum wird das Scheinangebot gemacht die Selbstkontrolle zurückerlangen zu können, falls sie nur die unerreichbaren Forderungen der Schönheitsindustrie erfüllen würden. Der Machtzugriff auf den eigenen Körper erscheint Frauen im Diskurs der Schönheitsideologie so als selbstverschuldet, mangels ausreichender Selbstkontrolle und mangelnden Konsums.
Dies führt unter anderem zur Übernahme extremer Disziplinartechniken bis hin zu tödlichen Hungerpraxen.
Dabei ist das Versprechen der Partizipation an der Macht nicht nur virtuell, eine Frau, die ihr Aussehen optimiert und vermarktet, kann real auf diese Weise Macht dazugewinnen.


BEV: Oftmals unbewusst bzw. verinnerlicht ist auch die Frage, was man als Zwang empfindet. Z.T. gibt es aber oftmals keine Wahlmöglichkeit, wie z.B. das Schweine-Schwangerschaftsprojekt in Thailand. Ohne das Schwein wäre die Lebenssituation wahrscheinlich viel schlechter.


7. M-Frage: Wir sind also alle total durchdrungen von den Strukturen der Biopolitik. Bieten unsere Körper auf dem globalen Markt an, kaufen alle Hautcremes gegen das Altern und unser Fortpflanzungsverhalten wird ständig überwacht und auf eventuelle Risiken und Nebenwirkungen hin überprüft. Welche Rolle spielen da noch andere Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Kapitalismus und Sexismus? Etabliert ihr einen neuen Hauptwiderspruch? Alle Jahre wieder entdeckt jemand in der Linken ein Feld, das unheimlich wichtig ist um die Welt aus der einzig wahren Perspektive zu betrachten.


BEV: Nee, total durchdrungen sind wir nicht, denn dann würden wir die biopolitischen Zumutungen ja gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Und von Hauptwiderspruch kann natürlich auch gar keine Rede sein.
Uns geht es nicht um die Entdeckung neuer Politikfelder, sondern nur um die Ergänzung unserer Analyse von Herrschaft um den biopolitischen Blickwinkel. Also darum, wie Herrschaft in Hinblick auf den Körper funktioniert und sich darüber auch reproduziert. Und darum, wie durch Biopolitik überhaupt erst so etwas wie ein „Bevölkerungskörper“ erzeugt wird, den es dann über die Disziplinierung der einzelnen Körper zu regulieren und zu optimieren gilt – immer mit dem Ziel, sich gegen eine solche Sichtweise zur Wehr zu setzen. Wir sind schließlich nicht gezwungen, uns als Bestandteil eines solchen „Bevölkerungskörpers“ zu verstehen, denn schon dieser „Bevölkerungskörper“ ist eine herrschaftsförmige Sichtweise auf etwas, was man auch einfach als eine Menge ziemlich unterschiedlicher Menschen bezeichnen könnte.


SCHÖ: Nein nicht Alle kaufen Hautcreme. Und DIE MACHT gibt es nicht. Ich glaube sowenig an Foucault wie an Jediritter.
Aber die biopolitische Analyse ist gerade dort wichtig wo Anreize wirksam sind, die dazu führen, das Menschen ihre Unterdrückung selbst organisieren.

Ein typisches Beispiel aus dem Schönheitsdiskurs ist die Durchsetzung der Körperenthaarung als Norm in den USA. Die Enthaarungspraxen bei Frauen, die dort zu Beginn des 20ten Jahrhunderts durchgesetzt wurden, wurden doppelt und widersprüchlich konnotiert. Sie waren einmal mit der Entsexualisierung des unbehaarten weiblichen Körpers und mit der Sexualisierung des behaarten weiblichen Körpers verknüpft. Die Körperbehaarung bei Frauen wird in den westlichen Gesellschaften heute unbewußt von vielen Menschen sexualisiert, wie verschiedene sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen. Körperhaare stehen für eine aktive weibliche Sexualität und werden deshalb von Männern sowohl als attraktiv als auch bedrohlich wahrgenommen.
Nena wurde bei ihrer ersten USA-Tournee als She-Wolf bezeichnet auf Grund ihrer Achselhaare und von männlichen Fans gefeiert.
Frauen der weißen US-Mittelschicht sind meist klar ablehnend (starker Ekel bis Haß) gegenüber Körperbehaarung, da sie der behaarten Frau ein unverschämtes sexualisiertes Auftreten unterstellen bzw. unterstellen, daß diese Frauen lesbisch sind. Enthaarungspraxen haben mit Einschränkungen eine ähnliche Funktion wie der Schleier, anständige Frauen rasieren sich.
Die Rasurpraxen wurden aber in den 20er Jahren in den USA nicht nur repressiv vermittelt, sondern gleichzeitig zusätzlich mit einem Upperclasshabitus und Hygiene, also dem Versprechen von Selbstkontrolle, verknüpft. Die ersten Frauen die sich in den 20er Jahren die Körperhaare entfernt haben waren die Reichen (das dies vorher ein Habitus von 'Tanzmädchen' war wurde ausgeblendet). Und die Enthaarung wurde zur rassistischen Abgrenzung gegenüber den Einwanderinnen aus Osteuropa benutzt.
Das heißt hier liefen repressive und Anreizverhältnisse parallel, das ist typisch für Biopolitik. Und nur durch eine solche biopolitische Analyse können wir begreifen, wie rassistisch ein weißer Upperclasskörper produziert wird und damit auch ein Teil der rassistischen Identität.

Der biopolitische Blick liefert eine notwendige Ergänzung unserer Herrschaftsanalyse. Er ermöglicht es Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus oder Kapitalismus in Hinblick auf Körper und Individuum besser zu verstehen und effektiver anzugreifen.


8. M-Frage: Wo ist die Chance zum Widerstand? Wir sind durchdrungen und völlig gefangen in den Netzen der Macht, Wissen ist außerdem relativ und oben ist unten und umgekehrt, hmm. Habt ihr Ansatzpunkte? Was macht ihr derzeit?


SCHÖ: Als Ziel für einen alternativen Schönheitsdiskurs ließe sich ein Diskurs denken, der eine Art Ideal unsortierter Menschen vertritt, alles durcheinander und egal bzgl. des Aussehens. Wie ließe sich so was durchsetzen?
Das KonsumentInnensubjekt muß sich ja permanent reproduzieren, daß heißt es muß durch immer neuen Konsum seine/ihre Subjektposition immer wieder neu her- und sicherstellen. Das ist ein permanenter Druck, der auf den Menschen lastet, ich denke vielen wäre es eine Erleichterung sich davon zu befreien. Dies ist aber nicht unabhängig, von der Infragestellung der Verwertungslogik insgesamt, zu haben. Auch der pornographische Blick müßte angegangen werden, die Reduktion von Frauenkörper auf Objekte. Viele Ansatzpunkte halt, aber ein bißchen stehn wir damit auch im Wald.


BEV: Im Gegensatz zu J. habe ich zwar Zweifel, ob es einen Standpunkt „außerhalb“ der Macht- und Herrschaftsverhältnisse geben kann, aber in jedem Fall gehe ich davon aus, dass es reale, materielle Machtgefälle gibt und dass ich zumindest in Maßen selbst beeinflussen kann, inwieweit ich selbst Herrschaftsstrukturen reproduziere. Soweit das Abstrakte.

Zum Konkreten: „Aufklärung” wirkt zwar immer ein wenig hilflos und wenig widerständig, aber unsere Kampagne (wobei Kampagne reichlich hochgestochen klingt für eine Website, einen Reader und ein Plakat ...) „Gene gibt es nicht“ – was sich ja auch in unserem Namen halluziNoGene wiederfindet – finde ich schon sinnvoll, um diesem ganzen Gendiskurs etwas entgegenzusetzen, also diesem genetischen Determinismus. Denn dabei geht es um etwas ganz Grundlegendes: Werden die gesellschaftlichen Verhältnisse als naturgegeben und unveränderbar interpretiert (ich glaube, ich erwähnte das schon) oder als Produkt denkender, fühlender, mit so etwas wie einem freien Willen ausgestatteter Individuen und damit auch als veränderbar? Und dass das bislang auf einer reinen und noch dazu sehr abstrakten Aufklärungsebene verblieben ist, hat auch mehr mit unseren mangelnden Kapazitäten als mit mangelnden konkreten Ansatzpunkten zu tun: Was spricht dagegen, Aktionsformen zu entwickeln, die bspw. den reibungslosen Ablauf des Betriebes humangenetischer Beratungsstellen oder schulmedizinischer Untersuchungen stören (wobei ich da aus persönlichen und politischen Vorlieben eher zu Clownsarmeen als zu Sprengsätzen greifen würde)? Gleiches gilt meinetwegen für Lobbyorganisationen der Weltbevölkerungspolitik: Warum nicht mal eine Veranstaltung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung besuchen? Ernährungsberatungsstellen? Aber es muss ja gar nicht mal so explizit biopolitisch sein: Die lokale Arbeitsagentur tut’s auch, um sich gegen Arbeitswahn und Verwertungslogik zu wehren. Ich glaube, der Phantasie sind da wenig Grenzen gesetzt und mensch muss auch nicht auf einen G8-Gipfel warten, um diesbezüglich aktiv zu werden ...

Und wenn sich, wie bei uns leider gerade, kollektiv gerade mal nicht so viel reißen lässt, gibt’s immer noch die mehr oder weniger subversive Einzelaktion: Sich nicht mehr waschen und rasieren und dann Kurt Beck besuchen, ist da sicher eine, allerdings eher symbolische, Möglichkeit. Aber warum nicht mal mit den eigenen Eltern über PatientInnenverfügungen und „Sterbehilfe“ diskutieren? Mit Schwangeren über die Zumutungen der humangenetischen Beratung? Mit ArbeitskollegInnen über Arbeitsethos oder Gesundheitsreform oder Migrationspolitik? Das mag zwar alles nicht unmittelbar zur sozialen Revolution führen, noch nicht mal zu politischer Organisierung, aber unwichtig finde ich es trotzdem nicht.
Aber toller wäre natürlich schon, kollektive Strukturen zu schaffen, die auch ökonomisch tragfähig sind, in denen die oder der einzelne den Verwertungszwängen der Gesellschaft also nicht isoliert gegenübertritt. Ansätze wie Volxküche oder Wohnprojekte oder auch schon WGs als alternative Formen des Zusammenlebens gehen da schon in die richtige Richtung, aber reichen eben nicht aus, weil in der Frage „Wo kriege ich mein Geld zum Leben her?“ kämpft dann jede und jeder – auch in der Linken – wieder nur für sich. Und passt sich dann über kurz oder lang z. B. auch den biopolitischen Zumutungen des Arbeitsmarktes und der Verwertungslogik an und reproduziert munter bestehende Herrschaftsverhältnisse. Eine zumindest teilweise Aufhebung der Spaltung in kollektiv agierende/n FreizeitpolitikerIn einerseits und isolierte/n stinknormale/n LohnempfängerIn andererseits hätte m. E. schon positive Auswirkungen auf das, was wir politisch erreichen können. Solche Strukturen nehmen die befreite Gesellschaft nicht vorweg und führen auch nicht automatisch dahin, aber sie bieten vielleicht bessere Ausgangsbedingungen für den Kampf um die befreite Gesellschaft und für den Abbau von Herrschaftsverhältnissen.

Ende





'Offene' Frage nach Abschluss: Bringt’s der biopolitische Blickwinkel wirklich immer? Komme ich bspw. bei Migrationspolitik zu anderen Antworten oder Erkenntnissen, wenn ich diese als Biopolitik begreife – oder laufe ich nicht sogar Gefahr, den Herrschaftsblick von oben zu reproduzieren, anstatt die Autonomie der einzelnen Menschen in den Vordergrund zu stellen?


Gruppe insgesamt: Nein wir haben nicht das Patentrezept, nichts bringt es immer. Und z.B. den Seuchendiskurs und seine Auswirkungen zu analysieren, z.B. bzgl. der Konstruktion des rassistisch Anderen versucht ja gerade in dem es den Blickwinkel von Oben analysiert, diesen zu brechen.
Gleichzeitig gilt auch für die biopolitische Analyse, daß sie, unkritisch verwendet, natürlich auch Herrschaft reproduzieren kann.
Die Frage kritisch zu stellen ist immer sinnvoll, spricht aber nur dafür auch bei der biopolitischen Analyse genau hinzuschauen, wo evtl. auch von uns in unserem Denken Herrschaft reproduziert wird.
Und sicher sind unsere Antworten auf die Frage, was tun, nicht befriedigend.




HalluziNoGene - Hannover / Bremen 2007 -